Notate tagsüber...

– Abgeschriebenes und Aufgeschriebenes –
Ablage für Ungereimtheiten und Gereimtes:
Gedanken, Gedichte und Zitate

Schlaf

Das Schimpfen vertrieb jeglichen Schlaf in die hintersten Winkel des Hauses. Hinab in die dunklen Kellergewölbe. Und hoch hinauf, höher noch als die Zimmer der Bediensteten, in diese winzige Kammer direkt unterm Dach. Ein Stübchen wie von Spinnweben eingesponnen, wo die Fenster, der Tauben wegen, vernagelt blieben. Dort war der Schlaf noch Schlaf, dieser natürlichste Zustand des Menschen. Und der ihm am meisten entsprechende. Schließlich beginnt des Menschen Dasein im Schlaf. Und wozu hat die Natur ihn vorgesehen, wenn nicht dazu, ihr Daein fortzuführen. Und welcher Zustand wäre hierfür geeigneter als der des Schlafs? […] Man wacht, um zu essen und zu trinken, damit man ohne zu verhungern schlafen kann. Der Mensch wacht, um zu schlafen.

– Alissa Walser

Tage mit Hähern

Der Häher wirft mir
die blaue Feder nicht zu.

In die Morgendämmerung kollern
die Eicheln seiner Schreie.
Ein bitteres Mehl, die Speise
des ganzen Tags.

Hinter dem roten Laub
hackt er mit hartem Schnabel
tagsüber die Nacht
aus Ästen und Baumfrüchten,
ein Tuch, das er über mich zieht.

Sein Flug gleicht dem Herzschlag.
Wo schläft er aber
und wem gleicht sein Schlaf?
Ungesehen liegt in der Finsternis
die Feder vor meinem Schuh.

– Günter Eich

In der Mitte des Sommers

Vollkommen ists
wie der Sommer sich über die Dämmerung beugt
an dünnen Ästen makellose Vogelbeeren
und außerhalb des Gewichts der Zeit
Der August so nah wie die Disteln am Weg
Die Tage um einen Fußbreit kürzer
Unter zerbrechlichem Stern bruchstückhafte Gespräche
Noch glauben wirs einander nicht dass aus dem nahen Dickicht
der Herbst tritt
Immerzu liegen die Bäume vor Anker in Wurzeln wie Glocken
Sicherheit überkommt
Und wunderschön das Überflüssigsein der Klage

– Jan Skacel

Manchmal

Manchmal, wenn ein Vogel ruft
oder ein Wind geht in den Zweigen
oder ein Hund bellt im fernsten Gehöft,
dann muss ich lange lauschen und schweigen.

Meine Seele flieht zurück,
bis wo vor tausend vergessenen Jahren
der Vogel und der wehende Wind
mir ähnlich und meine Brüder waren.

Meine Seele wird Baum
und ein Tier und ein Wolkenweben.
Verwandelt und fremd kehrt sie zurück
und fragt mich. Wie soll ich Antwort geben?

– Herrmann Hesse

Ebereschen

Wenn ich ein Stückchen Land besäße, ich würde mir ein kleines Wäldchen von Ebereschen pflanzen. Ein einziger der glühenden Bäume könnte schon das Glück eines Spätsommers ausmachen und verklären.
Ja, die Eberesche leuchtet in den Dezember hinein, täglich etwas dunkler werdend und zweighängerischer. Bis die letzte Koralle an der Dolde wartet auf die Schwarzdrossel, die sie aufpickt…

– Else Lasker-Schüler

Orangen

Ich, der ich in einem Baum aufgewachsen,
hätte mancherlei zu erzählen,
doch da ich viel erfuhr von der Stille,
habe ich mancherlei zu verschweigen,
und das lernt man indem man wächst
ohne einen anderen Genuss als das Wachsen,
ohne eine andere Sehnsucht als Substanz,
ohne ein anderes Tun als Unschuld,
und drinnen golden die Zeit,
bis die Höhe sie zu sich ruft,
um sie in Orangen zu verwandeln.

– Pablo Neruda

Getröstet

When I was a boy and I would see scary things in the news, my mother would say to me, “Look for the helpers. You will always find people who are helping.”
To this day, especially in times of ‘disaster’, I remember my mother’s words and I am always comforted by realizing that there are still so many helpers – so many caring people in this world.

– Fred Rogers

Spiel

Wenn Menschen aus der Funktionalisierung und Zweckmäßigkeit ihres Handelns herausfinden, fangen sie an zu spielen. Wenn sie zu spielen beginnen, fangen sie an, kreativ zu werden.
Es gibt keine Kreativität, die an die Funktionalität gekoppelt ist. Sobald ich einen bestimmten Zweck verfolge, bin ich nicht mehr frei in meinem Denken, dann kann ich auch nicht kreativ sein, sondern nur noch kombinieren. Für diese Art von Kombinationsleistungen lassen sich auch Maschinen programmieren.

– Gerald Hüter

Richtung

If you do not change direction
you may end up where you are heading.

– Lao Tsu

Schlüssel

Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel sind,
die uns gewisse Tore öffnen können.
Ich glaube, es gibt gewisse Tore,
die einzig die Krankheit öffnen kann.
Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand,
der es uns nicht erlaubt, alles zu verstehen.
Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten;
ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns davon weg,
so dass wir uns nicht mehr darum kümmern.
Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen,
noch keinen getroffen,
der nicht nach irgendeiner Seite beschränkt gewesen wäre –
wie solche, die nie gereist sind.

– André Gide

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