Notate tagsüber...

– Abgeschriebenes und Aufgeschriebenes –
Ablage für Ungereimtheiten und Gereimtes:
Gedanken, Gedichte und Zitate

Baumbewußtsein

Ich betrachte einen Baum.

Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts oder das spritzende Gegrün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen.

Ich kann ihn als Bewegung verspüren: das flutende Geäder am haftenden und strebenden Kern, Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter, unendlicher Verkehr mit Erde und Luft – und das dunkle Wachsen selber.

Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten, auf Bau und Lebensweise.

Ich kann seine Diesmaligkeit und Geformtheit so hart überwinden, dass ich ihn nur noch als Ausdruck des Ganzen erkenne – der Gesetze, nach denen ein stetes Gegeneinander von Kräften sich stetig schlichtet, oder der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen.

Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen und verewigen. In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und Beschaffenheit.

Es kann aber auch geschehen, aus Willen und Gnade in einem, dass ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein Es mehr. Die Macht der Ausschließlichkeit hat mich ergriffen.

Dazu tut nicht not, dass ich auf irgendeine der Weisen meiner Betrachtung verzichte. Es gibt nichts, wovon ich absehen müsste, um zu sehen, und kein Wissen, das ich vergessen hätte. Vielmehr ist alles Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und Zahl, mit darin, ununterscheidbar vereinigt.

Alles, was dem Baum zugehört, ist mit darin, seine Form und seine Mechanik, seine Farben und seine Chemie, seine Unterredung mit den Elementen und seine Unterredung mit den Gestirnen, und alles in einer Ganzheit.

Kein Eindruck ist der Baum, kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungswert, sondern er lebt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders.

Man suche den Sinn der Beziehung nicht zu entkräften: Beziehung ist Gegenseitigkeit.
So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unsern ähnlich? Ich erfahre es nicht. Aber wollt ihr wieder, weil es euch an euch geglückt scheint, das Unzerlegbare zerlegen? Mir begegnet keine Seele des Baumes und keine Dryade, sondern er selber.

– Martin Buber

Die Stille der Bäume

Überall und ehe die Welt endlich laisiert wurde, zu allen Zeiten sind Bäume verehrt worden. Das ist nicht erstaunlich. Der Baum ist ein äußerst numinoses Wesen. Aus dem Stamm erhebt sich eine Fontäne des Lebens, verteilt sich in die Zweige, zerstäubt in einem Sprühen von Blättern und Blüten und Früchten. Mit einer langsamen, stillen Kraft graben sich die Wurzeln in die Erde. Zärtlich, doch unwiderstehlich kämpft das Leben mit den leblosen Steinen und obsiegt.

Halbverborgen in der Dunkelheit, halb ausgestellt in der Luft unter dem Himmel, steht der Baum dort, großartig, ein manifester Gott. Selbst noch heute spüren wir da Majestät und Schönheit – und spüren unter gewissen Voraussetzungen seine Fürchten lehrende Qualität des Andersseins, der Fremdartigkeit.

Allein in einem Wald, erfährt man, was Stille ist – die dicke, zähflüssige, lebendige Stille der Bäume.

– Aldous Huxley

Schöpfungsmythos der Jakuten

An einem zentralen Punkt, dem Nabel der Welt, an dem der Mond und die Sonne nie untergehen, an dem immer Sommer ist und der Kuckuck ständig ruft, findet sich der Helle Jüngling. Er findet sich, das heißt: er erwacht zu Bewusstsein.
Hier gibt es einen Baum, dessen Harz durchsichtig ist und süß duftet; seine Borke vertrocknet nie und hat keine Risse, die Blätter sterben nie ab, sanftes Licht dringt durch das Blattwerk. Die Zweige dieses Baumes durchstoßen das Himmelsgewölbe. Seine Spitze ist das Zentrum des höchsten Gottes. Seine Wurzeln reichen bis in die Unterwelt und werden dort zu Stützpfeilern, auf denen mythische Wesen ruhen. Mit dem Rauschen seiner Blätter unterhält sich der Baum mit den Geistern der Himmelswelt.

Der Stamm des Baumes öffnet sich und heraus tritt die Weiße Göttin. Der Helle Jüngling redet sie an und beklagt sich, dass er allein ist. Er will seine Stärke mit anderen messen. Er bittet um einen Gefährten oder eine Gefährtin.

Von der Baumgöttin erfährt er, dass sie die Mutter aller Dinge und der Himmelsgott sein Vater ist. Daraufhin schöpft sie zwischen den Wurzeln des Baumes Wasser und übergibt es dem Jüngling in einer Blase. Sie fordert ihn auf, das Wasser unter seinem rechten Arm zu verwahren. Es wird ihn erretten, wenn er in Not kommt.
Schließlich segnet ihn die Göttin und säugt ihn an ihren üppigen Brüsten. Der Jüngling spürt, wie sich seine Kraft verneunfacht.

In der Nachbarschaft des Baumes entdeckt er einen Milchsee mit Sümpfen aus geronnener Milch an den Ufern. Es ist die Milch der höchsten Gottheit selbst, die den See speist: die für die Erhaltung des Lebens wesentliche Flüssigkeit! Sie ist das Himmelselixier, das den Göttern zur Unsterblichkeit verhilft. Und es ist jene flüssige Grundsubstanz, aus der sich Wasser, Blut, Samen, Milch und die Säfte der Pflanzen aufbauen – der Stoff, der die Regeneration des Lebens im Kosmos sicherstellt.

– Frederik Hetmann

Bäume

Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen.  Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. 

Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen.  Sie sind wie Einsame.  Nicht wie Einsiedler, welche aus irgendeiner Schwäche sich davongestohlen haben, sondern wie große, vereinsamte Menschen, wie Beethoven und Nietzsche.  In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen; allein sie verlieren sich nicht darin, sondern erstreben mit aller Kraft ihres Lebens nur das Eine: ihr eigenes, in ihnen wohnendes Gesetz zu erfüllen, ihre eigene Gestalt auszubauen, sich selbst darzustellen. 

Nichts ist heiliger, nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum.  Wenn ein Baum umgesägt worden ist und seine nackte Todeswunde der Sonne zeigt, dann kann man auf der lichten Scheibe seines Stumpfes und Grabmals seine ganze Geschichte lesen: in den Jahresringen und Verwachsungen steht aller Kampf, alles Leid, alle Krankheit, alles Glück und Gedeihen treu geschrieben, schmale Jahre und üppige Jahre, überstandene Angriffe, überdauerte Stürme. 

Und jeder Bauernjunge weiß, daß das härteste und edelste Holz die engsten Ringe hat, daß hoch auf Bergen und in immerwährender Gefahr die unzerstörbarsten, kraftvollsten, vorbildlichsten Stämme wachsen.

– Herrmann Hesse

Wälder

In den Wäldern sind Dinge
über die nachzudenken
man jahrelang im Moos liegen könnte.

– Franz Kafka

Freies Geleit

Da wird ein Ufer
zurückbleiben.
Oder das Ende
eines Feldwegs.

Noch über letzte
Lichter hinaus
wird es gehen.

Aufhalten darf uns
niemand und nichts!

Da wird sein
unser Mund
voll Lachens –

Die Seele
reiseklar –

Das All
nur eine schmale Tür,

angelweit offen –

– Heinz Piontek

Schlaf

Das Schimpfen vertrieb jeglichen Schlaf in die hintersten Winkel des Hauses. Hinab in die dunklen Kellergewölbe. Und hoch hinauf, höher noch als die Zimmer der Bediensteten, in diese winzige Kammer direkt unterm Dach. Ein Stübchen wie von Spinnweben eingesponnen, wo die Fenster, der Tauben wegen, vernagelt blieben. Dort war der Schlaf noch Schlaf, dieser natürlichste Zustand des Menschen. Und der ihm am meisten entsprechende. Schließlich beginnt des Menschen Dasein im Schlaf. Und wozu hat die Natur ihn vorgesehen, wenn nicht dazu, ihr Dasein fortzuführen. Und welcher Zustand wäre hierfür geeigneter als der des Schlafs? […] Man wacht, um zu essen und zu trinken, damit man ohne zu verhungern schlafen kann. Der Mensch wacht, um zu schlafen.

– Alissa Walser

Tage mit Hähern

Der Häher wirft mir
die blaue Feder nicht zu.

In die Morgendämmerung kollern
die Eicheln seiner Schreie.
Ein bitteres Mehl, die Speise
des ganzen Tags.

Hinter dem roten Laub
hackt er mit hartem Schnabel
tagsüber die Nacht
aus Ästen und Baumfrüchten,
ein Tuch, das er über mich zieht.

Sein Flug gleicht dem Herzschlag.
Wo schläft er aber
und wem gleicht sein Schlaf?
Ungesehen liegt in der Finsternis
die Feder vor meinem Schuh.

– Günter Eich

In der Mitte des Sommers

Vollkommen ists
wie der Sommer sich über die Dämmerung beugt
an dünnen Ästen makellose Vogelbeeren
und außerhalb des Gewichts der Zeit
Der August so nah wie die Disteln am Weg
Die Tage um einen Fußbreit kürzer
Unter zerbrechlichem Stern bruchstückhafte Gespräche
Noch glauben wirs einander nicht dass aus dem nahen Dickicht
der Herbst tritt
Immerzu liegen die Bäume vor Anker in Wurzeln wie Glocken
Sicherheit überkommt
Und wunderschön das Überflüssigsein der Klage

– Jan Skacel

Manchmal

Manchmal, wenn ein Vogel ruft
oder ein Wind geht in den Zweigen
oder ein Hund bellt im fernsten Gehöft,
dann muss ich lange lauschen und schweigen.

Meine Seele flieht zurück,
bis wo vor tausend vergessenen Jahren
der Vogel und der wehende Wind
mir ähnlich und meine Brüder waren.

Meine Seele wird Baum
und ein Tier und ein Wolkenweben.
Verwandelt und fremd kehrt sie zurück
und fragt mich. Wie soll ich Antwort geben?

– Herrmann Hesse

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